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«Spiritualität kann Bedürfnisse von Demenzerkrankten abholen»

Die Plakatausstellung «Demenz begegnen» lädt derzeit dazu ein, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen. Im Interview spricht Daniela Bigler, Geschäftsleiterin von Alzheimer Zug über die gesellschaftlichen, emotionalen und auch spirituellen Dimensionen von Demenz.

Daniela Bigler in der Geschäfts- und Beratungsstelle Alzheimer Zug. Foto: Melanie Schnider

In der Schweiz erkrankt alle 16 Minuten ein Mensch an Demenz. Alle 18 Stunden einer im Kanton Zug. Die Tendenz für Neuerkrankungen ist steigend, auch bei jüngeren Menschen. Vom 10. bis 30. September 2025 macht die Plakatausstellung «Demenz begegnen» das sichtbar, was im Alltag oft übersehen wird. Mit den Plakaten lädt Alzheimer Zug direkt am See ein zum Innehalten, Reflektieren und Mitfühlen. «Demenz betrifft uns alle früher oder später in irgendeinem Zusammenhang», sagt Daniela Bigler, Leiterin der Geschäfts- und Beratungsstelle von Alzheimer Zug. Gemeinsam mit drei weiteren Personen hat sie die Plakatkampagne entwickelt – bewusst niederschwellig, zugänglich und mitten im öffentlichen Raum.

Welche Inhalte zeigen die 20 Plakate?

DANIELA BIGLER: «Ein Plakat illustriert die hohen Kosten einer Demenzerkrankung, die Betroffene und Angehörige jährlich selbst tragen: 5 Milliarden Franken. Ein zweites erklärt, dass die Krankheit ein Überbegriff für verschiedene Demenzformen wie der Alzheimer Demenz, ist. Neben Zahlen und Fakten zeigt die Ausstellung auch emotionale Momente auf und erzählt persönliche Geschichten.»

Plakat Nr. 13 der Ausstellung «Demenz begegnen». Bild: zvg

Welches ist Ihr Lieblingsplakat?
«Das mit dem Interview mit Herrn Grosser. Seine Frau ist früh an Demenz erkrankt. Er erklärt, was dies für ihn als Ehemann wirklich bedeutet und macht die Krankheit nachvollziehbar. Das Interview hat mich sehr berührt.»

Welches sind erste Anzeichen von Demenz?

«Vergesslichkeit ist wohl das bekannteste Symptom einer Alzheimer-Demenz. Weitere auffallende Symptome sind Sprachschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen, zeitliche und örtliche Desorientierung, Antriebslosigkeit, Rückzug, Teilnahmslosigkeit, verändertes Urteilsvermögen, Ängste, Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen, eingeschränktes soziales Verhalten und wiederholtes Fragen. Wir alle merken Veränderungen im Alter, aber wenn eine oder mehrere dieser Veränderungen unseren Alltag spürbar verändern, empfehle ich eine Abklärung beim Hausarzt.»

Wie verändert die Diagnose das Leben der Betroffenen und der Angehörigen?

«Eine Demenzerkrankung verändert das Leben von Betroffenen und Angehörigen komplett. Angehörige müssen Aufgaben der erkrankten Person übernehmen wie beispielsweise Finanzen, Administration, Kochen und Haushalt und sie müssen Entscheidungen treffen, die früher gemeinsam getroffen wurden, Gespräche werden schwierig. Dadurchverändern sich die Beziehungen. Die erkrankten Personen sind mit Ängsten konfrontiert, wenn sie die Veränderungen wahrnehmen, wie mit Scham, Verwirrung, Hilflosigkeit, Ablehnung und Frustration.»

Was bedeutet Demenz für die Gesellschaft?

«Ein Gesundheitsökonom der ZHAW betitelte am diesjährigen nationalen Demenzkongress in Bern die Demenz als teuerste Krankheit der Schweiz. Die Kosten resultieren fast ausschliesslich aus der Pflege und Betreuung. Diese Kosten tragen vor allem die Betroffenen selbst, die AHV und IV sowie der Staat. Die Krankenkassen übernehmen aktuell nur einen kleinen Teil. Die Betreuung wird nicht über die Krankenkasse abgeholt.»

Welche Unterstützungsangebote gibt es im Kanton Zug sowie in der Schweiz?

«Für Betroffene, die zuhause leben, bietet Alzheimer Zug gemeinsam mit verschiedenen Dienstleistern Unterstützungsmöglichkeiten wie Betreuung, Begleitung und Alltagsentlastung an. Zudem gibt es das Angebot von Amnesia Zug, welches Betroffene und Angehörige zuhause begleitet, Unterstützung organisiert und koordiniert und von allen Zuger Gemeinden mitfinanziert wird.»

Was hilft im Alltag mit Demenz?

«Es ist erwiesen, dass das Wissen, das sich die Angehörigen über die Krankheit, das Verhalten, die Kommunikation und den Umgang aneignen, die Lebensqualität der betroffenen Person positiv beeinflusst.»

Plakat Nr. 8 der Ausstellung «Demenz begegnen». Bild: zvg

Inwiefern spielt Religion eine Rolle bei Menschen mit Demenz?
«Religiöse Rituale und christliche Traditionen spielen im Alltag der betroffenen Personen oft eine wichtige Rolle, da sie einer vertrauten Gewohnheit entsprechen. Ein einfaches Vaterunser oder das Singen eines bekannten Kirchenliedes wecken tiefsitzende Erinnerungen und geben emotionale Sicherheit. Menschen, die sich sprachlich kaum noch ausdrücken können, finden bei einem Gebet plötzlich wieder Worte oder reagieren sichtbar – durch ein Lächeln, Tränen oder ein zustimmendes Nicken. Zudem bieten religiöse Rituale Struktur, Orientierung und ein Gefühl von Geborgenheit. Das Anzünden einer Kerze, gemeinsames Singen oder der Besuch eines Gottesdienstes können Ankerpunkte im Tages- oder Wochenverlauf sein. Die Spiritualität holt dabei Bedürfnisse von Demenzerkrankten ab, die nicht mehr geäussert werden können. Auch wenn kognitive Fähigkeiten nachlassen, will man Teil eines grösseren Ganzen sein oder sich mit existenziellen Fragen auseinandersetzen – sei es bewusst oder unbewusst. Die spirituelle Begleitung kann hier Räume öffnen, in denen sich Demenzerkrankte angenommen fühlen.»

Welche Rolle kann die Kirche im Umgang mit Demenz einnehmen?

«Inklusion. Die Stadt Wien engagiert sich stark, Bezirke demenzfreundlich zu gestalten. Es werden Messen für Menschen mit und ohne Demenz angeboten. Solche inklusiven Gottesdienste schaffen einen Raum, in dem sich alle Menschen – unabhängig von ihrer kognitiven Verfassung – willkommen und angenommen fühlen. Die Kirche hat die Möglichkeit, hier als Brückenbauerin zu wirken: Sie bietet nicht nur spirituelle Begleitung, sondern auch Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Menschen mit Demenz erleben oft einen sozialen Rückzug durch Unsicherheit, Scham oder Stigmatisierung. Niederschwellige kirchliche Angebote helfen, diesen Rückzug zu durchbrechen.»

Wie kann das Publikum der Plakatkampagne in Zug aktiv werden – über das Anschauen hinaus?

«Was würde ich mir wünschen, sollte ich einmal an einer Demenz erkranken? Diese Frage auf einem Plakat lädt zur persönlichen Auseinandersetzung ein und macht deutlich, worum es im Kern geht: um Teilhabe, um Anerkennung und um Menschlichkeit. Die Antworten darauf richten sich nicht nur an Fachpersonen oder Angehörige, sondern an uns alle. Es geht darum, Menschen mit Demenz als Teil unserer Gesellschaft zu begreifen, nicht reduziert auf ihre Diagnose, sondern sie wahrzunehmen als individuelle Persönlichkeiten mit Bedürfnissen, Erfahrungen und Ressourcen. Aktiv werden heisst: sich informieren, Verständnis zeigen statt Mitleid empfinden, und bereit sein, die eigene Haltung zu hinterfragen. Es bedeutet, mit Betroffenen zu sprechen – nicht über sie hinweg. Es heisst, ihre Wünsche ernst zu nehmen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen, ihren Alltag mitzugestalten und sich weiterhin als wertvollen Teil der Gesellschaft zu erleben.

Die Kampagne lädt dazu ein, nicht nur hinzusehen, sondern mitzudenken und mitzufühlen – und konkrete Schritte im eigenen Umfeld zu gehen. Denn Demenz betrifft uns alle. Und ein demenzfreundliches Zug beginnt bei jedem und jeder Einzelnen.»